Eine Frage, die mich zunehmend beschäftigt, ist diese: Wie kann es sein, dass so viele Menschen gar nicht glücklich sein wollen?
Das ist eine gewagte Behauptung: „Sie wollen nicht glücklich sein“ – ich weiß.
Wahrscheinlich würden die meisten Menschen empört darauf antworten: ich WILL schon glücklich sein, aber ich KANN nicht, weil…
…und hier folgen dann jede Menge Begründungen: vom falschen oder fehlenden Partner, über die ungenügende oder zu erhaltende Gesundheit, den beklagenswerten Zustand der Welt oder auch weil es allen viel zu gut geht, bis hin zum fehlenden oder unerwünschten (auch das gibt es!) Vermögen.
Geht in Ordnung, ich akzeptiere das.
Ich will hier gar nicht anfangen mit: „Das wahre Glück ist in dir“, „Mach dein Glück nicht von äußeren Faktoren abhängig, sondern suche es in deinem Inneren“ und ähnlichem. Dafür gibt es andere, Spezialisten.
Lassen wir es ruhig auf der äußeren, angreifbaren, materialistischen Ebene: wenn du, um glücklich zu sein, etwas von außen benötigst, Menschen, Dinge, Ereignisse, Zustände – kannst du dann zumindest benennen, was genau das ist und wie es sein soll?
Wie genau müsste der Mensch sein, der dich glücklich macht, welche Dinge würdest du brauchen, um Glück zu verspüren, was sollte passieren und wie genau sollte es passieren, welchen Zustand wünscht du dir für dich, für andere, für die Welt?
Ich fürchte, die Sache mit dem fehlenden Glück happert bereits da: an der fehlenden Vorstellung, was denn dieses Glück überhaupt wäre: durch wen oder was genau es ausgelöst werden könnte.
„Das Glück ist ein Vogerl“ heißt es auf Wienerisch und gemeinhin versteht man das so, dass das Glück sich eben wie ein leichtfüssiges Vögelchen verhält, das plötzlich und ungefragt herangeflogen kommt (eventuell haben wir es schon auch mit ein paar ausgestreuten Körnern angelockt), aber genau so schnell, ohne dass wir es aufhalten könnten (in der Regel ist es auch schreckhaft) kann es wieder davon fliegen. Weg ist es.
Sprichwörter bergen immer die Gefahr, dass sie gut und schlüssig klingen und man daher auf die Idee verfallen könnte, sie zu glauben. Oder zumindest zu glauben „da ist was Wahres dran“. Sonst würden sie ja nicht so oft wiederholt werden.
Vielleicht klingt so eine sprichwörtliche Weisheit aber auch nur deshalb nach Wahrheit, WEIL sie so oft wiederholt wird.
„Das Glück ist ein Vogerl“ bedeutet ja auch: ob es Glück ist, oder nicht, ob es mich glücklich macht, sehe ich erst, wenn es da ist. Es kann ein normales, unbedeutendes Vögelchen sein, oder eben „das Glück“ dass da daher kommt, es hat nichts mit mir, meinen Erwartungen und meinen Hoffnungen zu tun, es kommt ganz einfach, ist da – und, weil es eben ein Vogerl ist, kann es jederzeit wieder weg sein.
Während ich also glücklich bin, während das Vögelchen da ist, fürchte ich die gesamte Zeit, dass es gleich wieder weg sein, davon fliegen könnte. Oder ich sperre es in einen Käfig, vielleicht bin ich dann glücklich, das Vogerl sicherlich nicht.
Nein, ich sage immer noch nicht: daher musst du das Glück IN dir finden. Jedenfalls heute nicht, in diesem Gedankengang hier nicht – auch wenn ich es, offen gesagt, glaube.
Bleiben wir ruhig weiterhin im Außen und bleiben wir bei der Eingangsfrage: Wie kann es sein, dass so viele Menschen gar nicht glücklich sein wollen?
Der Schlüssel liegt im „wollen“: auch wenn es ausschließlich äußere Dinge wären, die sie glücklich machen könnten und selbst wenn diese Dinge plötzlich und ungefragt daher kommen würden, wenn – nein, nicht ein Vogerl, sondern – eine Fee all dies an einem schönen Morgen direkt vor ihren Füßen platzieren würde:
Würden sie dann – nein, nicht: „es wollen“ (ich glaube schon, dass viele das Geld, den°die Partner°in, die Gesundheit annehmen würden) – sondern: würden sie damit GLÜCKLICH sein WOLLEN?
Ich fürchte nicht. Ich fürchte, die Illussion, dass das Glück ein Vogerl ist ist stärker als der Wunsch oder Wille, wirklich glücklich sein zu wollen.
Nein, hier gibt es jetzt keinen salbungsvollen Abschlusssatz. Denkt mal darüber nach, und wenn ihr mir wiedersprechen wollt und könnt, dann: umso besser für euch!
Bild: Graffiti in Sao Paolo, Brasilien, unbekannte°r Künstler°in, Foto: Karin Schäfer #kunstfairteilen