Was für ein unfassbares Wunder ist doch die Schrift, das Schreiben! Es erscheint uns, als wäre sie nur eine der vielen Errungenschaften der Zivilisation, und zumeist nehmen wir überhaupt nicht wahr, welche zentrale Rolle sie in unserem Leben, in unserer Gesellschaft hat.

Doch ohne Schrift, ohne das Schreiben wäre nichts so, wie es ist.

Sicherlich, sie entsteht aus der Kunst, die Kunst war zuerst da: es wurde geformt und gemalt, Abbilder von realen Dingen, Gegenständen, Tieren – mehr aber noch von erfundenen Dingen: die Kunst ermöglichte erstmals, die inneren Vorstellungen von Menschen in konkreten äußeren Dinge zu manifestieren.

Zwischen Erschaffer und Betrachter bleibt aber immer jede Menge Interpretationsspielraum: was hat der eine gemeint, was sieht die andere darin?

Erst die Schrift bringt „Klarheit“: die ersten Schriften, in Ägypten, Mesopotamien und China entstehen aus Bildern – bildliche Darstellungen werden standardisiert immer wieder verwendet, um bestimmte, definierte Bedeutungen zu transportien.

Nach und nach werden diese Bilder immer mehr vereinfacht, symbolisieren irgendwann nicht mehr Dinge und Konzepte sondern Silben oder einzelne Laute und bilden schließlich das, was wir Schrift nennen.

Mit ihr können komplexe Vorstellungen, Ideen, Projekte und jede Menge Erfundenes von innen nach aussen gebracht und (fast) vollständig in die Köpfe anderer Menschen übertragen werden.

Und zwar nicht nur von einer, konkret vor mir sitzenden Person oder über den Umweg eine°r Erzähler°in (die ihre eigene Interpretation einbauen kann), sondern von mir zu jemandem, den ich überhaupt nicht kenne, der an einem entferten Ort und in einer fernen Zeit leben kann.

Ein Geschichte in Keilschrift kann heute, 4000 Jahre später gelesen und weitgehend verstanden werden. Nicht nur das: mit ein wenige Empathie können wir sogar die Gefühle der Schreiberin (zum Beispiel der Hohepriesterin von Ur, Enheduana) nachvollziehen.

Daran ändert sich auch im digitalen Zeitalter nichts. Ja, es ist die Tonaufzeichnung, der Film, das Video erfunden worden – auch sie sind Träger unserer Worte und alles, was wir mit ihnen ausdrücken. Sie sind sogar noch konkreter, den die Tonaufzeichung kann Tonfall und Stimmungen, die Videoaufzeichung auch Mimik und Körperhaltung mittransportieren.

Ohne Schrift würden sie trotzdem nicht funktionieren: vom Label der Schallplatte bis zur Beschreibung auf Youtube – die Suche und das Eingeben der URL miteingeschlossen: alles auf Basis der Schrift.

Ohne Schrift würde es keine Zivilisation, wie wir sie kennen, geben, ohne Schrift gäbe es keine komplexen Gesellschaften, müsste jede Generation auf’s Neue alle wichtigen Entdeckungen machen, ohne Schrift könnte niemand das hier lesen.

#kunstfairteilen: Graffiti in Valparaiso, Chile, unbekannte°r Künstler°in, Foto: Karin Schäfer