Immer wenn ich lese oder höre, dass jemand „Erfahrung“ hat – „langjährige Erfahrung“, „seit 20 Jahren im Job“, „seit 30 Jahren in diesem Bereich tätig“ – runzelt sich meine Stirn und ich kann mich eines großen Unbehagens nicht erwehren.

Ist das wirklich wahr? Bringt das was? Ist das tatsächlich ein Kriterium, das jemanden auszeichnet?

Natürlich bin ich selbst auch geschmeichelt, wenn meine Kunden und Leser°innen auf meine Expertise vertrauen, die ja nicht unerheblich auch auf langjähriger Tätigkeit in meinem Bereich – als Kulturmanager, als Coach – beruht.

Trotzdem glaube ich nicht wirklich – oder nicht generell – an „Erfahrung“ als Quelle des Lernens und des Besserwerdens, als Quelle von Kompetenz. Das klingt absurd, wo doch immer und überall darauf gepocht wird, dass man „Erfahrung“ für einen bestimmten Job braucht, am Besten gleich mehrere Jahre in genau diesem Bereich, für den man sich nun neu bewirbt. Erfahrung steht hoch im Kurs und ist ein Auszeichnungskriterium, eine zusätzliche Qualifikation die man sich mit der Zeit erwirbt – erarbeitet oder ersitzt.

Aber was ist eigentlich Erfahrung? Dass wir etwas Bestimmtes über eine länger Zeit und möglichst oft „erfahren“ haben, dass es uns auf immer gleiche oder in Varianten immer wieder begegnet ist und wir somit „Erfahrung“ damit erworben haben.

Aber hat uns diese Erfahrung auch besser und kompetenter gemacht?

In meinem Bekanntenkreis gibt es mehrere Menschen, die mit einer anderen Muttersprache als Deutsch aufgewachsen sind, die nun seit vielen Jahren – 7, 10, 20, manche 30 Jahre – in Österreich oder Deutschland leben und somit ebensoviele Jahre „Erfahrung“ mit der deutschen Sprache im täglichen Umgang haben.

Sprechen sie deswegen perfekt Deutsch, aufgrund dieser langjährigen Erfahrung? Einige ja, andere aber sprechen, ehrlich gesagt, ganz miserabel und all die vielen Jahre des Hörens und Sprechens haben daran nur unwesentlich etwas geändert.

Ich selbst habe auch insgesamt fast 10 Jahre in Spanien gelebt, und ich kann mich auch ausreichend auf Spanisch verständigen – aber so gut, wie 10 Jahre „Erfahrung“ in der täglichen Anwendung der Sprache vermuten lassen würden, bin ich bei weitem nicht. Nach 10 Jahren die man eine Sache praktisch täglich macht, solte man eigentlich perfekt darin sein. Bin ich aber nicht – und sind auch die oben erwähnten Freunde und Bekannten nicht.

Bei den meisten, und auch bei mir, war es eher so, dass wir im ersten Jahr gelernt haben uns so halbwegs zu verständigen, danach eine Phase kam, in der es nach und nach besser wurde, dann aber, in den letzten Jahren, sich eigentlich überhaupt nichts mehr verändert hat in unserer Sprachanwendung. Im Gegenteil: viele häufig begangene Fehler haben sich „eingebrannt“ und sind schon Teil der persönlichen Art diese Sprache zu sprechen. Wahrscheinlich fallen sie nicht einmal mehr den uns umgebenden „native speakern“ auf, einfach weil sie unsere Art zu radebrechen schon als gegeben hinnehmen, als Teil unseres Persönlichkeit.

Ich denke, dass dies mit allen „Erfahrungen“ so ist. Etwas täglich und über lange Zeit hinweg vorgesetzt zu bekommen und selbst zu tun, heißt noch lange nicht, dass wir darin stetig besser und besser werden. Es ist viel eher eine sich abflachende Kurve, und wir haben Glück, wenn diese sich im Verlauf der Zeit nicht sogar wieder abwärts neigt.

Nein, mit Glück hat das nichts zu tun, sondern mit Aufmerksamkeit: es geht darum, wie wir diese wiederholte Erfahrung aufnehmen, DAS ist der entscheidende Faktor ob wir dadurch besser werden, dazu lernen und tatsächlich „erfahrener“ werden – und nicht einfach nur „gewohnter“.

Dazu aber demnächst mehr, denn ich merke gerade, dass dieses Erfahrungs-Thema eine ganze Palette an Fragen und Möglichkeiten aufwirft. Das hier waren nur mal die ersten Gedanken, die mir heute bei meinem morgendlichen Ausflug eingefallen sind…

Peter Unterschrift
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Peter Hauptmann, art!up Coach


Bild: Peter Hauptmann, Wand & Schatten, 21.4.2013, 1190, Wien Döbling