Im letzten oder vorletzten Schuljahr vor der Matura, ich muss etwa 16 oder 17 gewesen sein, wurden wir alle – die Schüler der letzten Schulstufen – im Festsaal versammelt und es wurden uns zwei Filme gezeigt (ich weiß nicht mehr, ob beide am selben Tag oder bei zwei verschiedenen Gelegenheiten).
In einem ging es um illegale Autorennen von Jugendlichen (in den USA), die schlimm endeten – er sollte uns davor bewahren, ähnliches zu versuchen. Ich denken, wenn, dann kamen die meisten von uns überhaupt erst auf die Idee, dass man sowas machen könnte. Führerschein und Autos hatte aber ohnehin noch niemand. Außerdem war der Film unglaublich langweilig und diese Art von „männlichem Wettkampf“ der dazu führte, interessierte mich ohnehin wenig.
Im zweiten Film wurde eine Lungenoperation detailliert gezeigt, das sollte uns vom Rauchen abhalten. Ich hatte mehr oder minder die gesamte Zeit die Augen geschlossen, denn die Vorstellung, einen Körper (egal ob lebendig oder tot) an irgendeiner Stelle mit einem Schnitt zu öffnen, erregt noch heute in mir das allergrößte Grausen. Aber ich habe ohnehin nie geraucht. Meine erste und einzige Zigarette hat mich ebenso davon abgehalten wie das Vorbild meines älteren Bruders und seiner Frau, die damals täglich jeder 2 Packungen rauchten. Darauf werde ich ein andermal unter dem Titel „Dank an schlechte Vorbilder“ nochmals zurückkommen.
Heute geht es um etwas anderes: während der Vorstellung saßen zwei Mitschüler hinter mir, die Teil der „coolen“ Gruppe in der Klasse waren. Sie waren beide schon mal durchgefallen, also zumindest ein Jahr älter als ich, sie rauchten, angeblich auch Marihuana, sie hatten Lederjacken, waren an jeder Art von schulischen Inhalten absolut desinteressiert und ließen auch keine Gelegenheit aus, das zu zeigen.
Ich empfand sie nicht als cool, aber als anders als die anderen. Ich wollte nicht zu ihnen gehören, aber – und jetzt kommt der Aufhänger dieser Geschichte – an einem bestimmten Punkt sagte einer der beiden einen Satz, dessen Anfang ich nicht verstand, aber der mit „wie alle diese Spießer, der …., der …. , der Hauptmann, der…“ endete.
Hatte ich da meinen Namen gehört? Hatten sie mich einen „Spießer“ genannt? Eindeutig.
Ich wußte, ich wollte nicht zu ihnen gehören, aber ich wußte genau so klar, mit einem Schlag, dass ich DAS auch nicht sein wollte: ein Spießer. Was immer das war. So klar war mir das nicht. Sicher, ich kannt Ödön von Horváths „Der ewige Spießer“, ob ich es zu dem Zeitpunkt schon gelesen hatte, weiß ich nicht, vor der Matura habe ich es in jedem Fall gelesen.
Trotzdem weiß ich nicht, ob ich „Spießer“ hätte definieren können. Heute kann ich ganz einfach auf Wikipedia nachsehen: „Als Spießer werden in abwertender Weise engstirnige Personen bezeichnet, die sich durch geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen und Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung auszeichnen.“
So ungefähr habe ich mir das damals auch zusammengereimt. Und es war mir mit einem Schlag klar – durch die Aussage der beiden Nicht-Spießer hinter mir – dass ich das NICHT sein wollte. Ich wollte nicht Teil ihrer Gruppe sein, aber auch auf gar keinen Fall ein Spießer wie die anderen Mitschüler die sie da in eine Reihe der Aufzählung mit meinem Namen gestellt hatten. Die waren nämlich wirklich Spießer, das war mir damals klar, und nein, so wie die wollte ich auf gar keinen Fall sein, ich wollte auf gar keinen Fall so werden, wie ich mir vorstellte, dass sie werden würden.
Ich habe keine Ahnung, was aus ihnen allen geworden ist. Niemand aus der gesamten Klasse hat sich später jemals die Mühe gemacht, ein Klassentreffen zu organisieren. Ich weiß nicht, ob die beiden hinter mir cool geblieben oder Versicherungsvertreter geworden sind, ich weiß nicht, ob die anderen, die zusammen mit mir aufgezählt wurden, alle Spießer wurden oder heute… ja, was eigentlich…? sind.
Ich bin mir einzig und allein sicher, dass ich selbst seither immer versucht habe, kein „Spießer“ zu sein, auch wenn meine private Definition davon nie so klar festgelegt, es eher nur eine vage Vorstellung war, von der ich aber immer versucht habe „wegzuleben“. Sie war also immer eine Art negativer Leitstern – im Zweifelsfalls immer nicht als „Spießer“ zu handeln, was immer das im konkreten Fall war.
Dafür bin ich den beiden coolen Typen hinter mir bis heute dankbar. Ich bin dankbar, ihr Gespräch mitgehört zu haben. Ich bin dankbar, dass sie mich damals so eingeschätzt haben, dass diese Einschätzung bei mir „eingeschlagen“ hat, dass sie mich so stark getroffen, beleidigt, enttäuscht hat, dass mir klar wurde, was ich NICHT sein will.
Es gibt eine (wahrscheinlich mehrere) Phasen in unserem Leben, da wissen wir nicht so genau, was wir sein wollen, wie wir sein wollen, wie wir werden wollen. Es hilft aber schon mal, zu wissen, wie wir NICHT sein wollen, wer wir NICHT sein wollen. Ich wollte kein Spießer sein, der Rest ergab sich von selbst.