In einem Interview mit dem Fotografen Chase Jarvis meinte dieser, dass Kreativität das Alphabeth des 21. Jahrhunderts wäre.
Oder so ähnlich. Ganz genau kann ich mich nicht mehr erinnern, aber der Gedanke war folgender: das Erlernen von Kreativität – oder genauer gesagt: das Erlernen, unsere angeborene Kreativität zu nützen und sie als zentrale menschliche Fähigkeit wahrzunehmen – wird im 21. Jahrhundert dem entsprechen, was in früheren Jahrhunderten das Lesen und Schreiben bedeutet hat.
Lange Zeit galt „Lesen und Schreiben können“ als Beruf, etwas, das man wie Töpfern oder Weben erlernen kann, das aber auch nur einige wenige erlernen müssen, diejenigen, die man eben dazu braucht, um Informationen festzuhalten, so wie man andere braucht, um Vorratsgefäße oder Kleidung herzustellen.
Weil aber bald klar wurde, dass Wissen auch Macht bedeuten kann, wurde es irgendwann ein Privileg, Lesen und Schreiben – und darauf aufbauend viele weitere Kenntnisse – zu lernen, das nur Adelige und Wohlhabende sich leisten konnten.
Erst mit Beginn der Neuzeit wurde erkannt, dass es der Gesellschaft insgesamt nützt – und somit auch die Adeligen mächtiger und die Reichen reicher macht – wenn möglichst viele Menschen Lesen und Schreiben können.
Die Alphabetisierung wurde als Mittel des Fortschrittes erkannt und hat sich als solches bewährt: je mehr Menschen in einem Land, in einer Region alphabetisiert – und darauf aufbauend, weiter gebildet werden, desto besser geht es den Menschen und der jeweiligen Gesellschaft (in der Regel, von politischen Ausnahmen abgesehen) insgesamt.
[Übrigens bedeutet „Alphabetisierung“ die Vermittlung der Lese- und Schreibfähigkeit unabhängig davon, ob die erlernte Schrift eine alphabetische ist, gilt also auch für Arabisch, Chinesisch, etc.]
Das was die Alphabetisierung für die Welt bisher bedeutet hat, das könnte nun die „Kreativisierung“ für das 21. Jahrhundert bedeutet. Denn alles, was der Mensch bisher gemacht und gelernt hat, lässt sich mittlerweile auf Maschinen übertragen.
Automaten können die allermeisten Dinge, die wir Menschen tun, in der Zwischenzeit – oder jedenfalls bald – ebenfalls so gut tun wie wir. Information ist online weltweit verfügbar und auch viele menschliche Denkprozesse werden von Computern übernommen.
Was diese aber nicht können und mit Sicherheit noch lange nicht können werden, ist: kreativ zu sein. Kreativ im tatsächlichen, realen Sinn, nämlich: Neues aus dem Nichts zu schaffen. Neue Ideen, neue Konzepte, neue Sichtweisen, neue Kombinationen ebenso wie komplett Neues.
Und ich rede hier selbstverständlich nicht nur von Kunst. Ohne Kreativität wäre keine einzige menschliche Leistung jemals denkbar gewesen. Alles außerhalb der Natur muss erdacht und erschaffen werden, um zu existieren und dafür braucht es Menschen, die es sich ausdenken – die kreativ sind, die kreieren, also schaffen.
Ebenso wie das Alphabeth früher nur einigen wenigen vorbehalten war, so sehen wir heute das „Kreativ sein“ als etwas, das eben einige haben (die von der Muse geküsst wurden) – oder sein dürfen – und andere nicht.
Aber ebenso, wie erkannt wurde, dass im Prinzip jeder Lesen und Schreiben lernen kann und sollte (!) damit es uns allen besser geht – so wird bald auch entdeckt werden, dass im Prinzip jeder kreativ sein kann und sollte (!), damit es uns allen besser geht.
Das Gute daran ist, dass Menschen ohnehin von Geburt an kreativ sind. Die Kreativisierung braucht also nur darauf zu achten, dass diese Kreativität im Lauf der Ausbildung nicht zerstört, sondern im Gegenteil erhalten und gefördert wird.
Bild: aus einem Museum in Chengdu, China, Foto Peter Hauptmann, 2012