Stell dir vor, du nimmst ein Lineal, das genau 1 Meter lang ist und eine Schnur. Nun legst du diese Schnur in einem exakten Kreis so rund um das Lineal (d) wie auf diesem Bild:

Wie lange ist diese Schnur jetzt?

Wenn du sie wieder gerade auflegst und sie abmisst – wie lange ist sie?

Da du ja ein Lineal hast, kannst du die Schnur abmessen: sie wird 3 Meter und 14 Zentimeter lang sein – und noch ein bisschen was dazu.

Du nimmst also einen Lupe und schaust genauer auf das Lineal: die Schnur ist 3 Meter 14 Zentimeter und ca. 16 Millimeter lang – aber nicht ganz.

Du nimmst also ein Mikroskop und schaust noch genauer auf das Lineal (das eine sehr feine Einteilung hat – ein tolles Lineal!): die Schnur ist 3,1415926535 Meter lang – und noch ein bisschen was dazu.

Ja, hört dass denn nie auf?

Nein, es hört nie auf. Je genauer du hinsiehst, desto länger wird die Zahl, aber du kannst niemals die genaue Länge der Schnur messen. Je genauer du misst, desto mehr Kommastellen hat die abgemessene Länge:

3, 14159265358979323846264338327950288419716939937510… und das geht immer so weiter – ewig lange – unendlich lange!

Wie ist das möglich?

Die Schnur liegt doch vor dir, du kannst sie ja ansehen, angreifen, abmessen – aber je genauer du misst, desto mehr musst du einsehen, dass du sie eben nicht genau abmessen kannst.

Da ist doch komplett irrational!

Ja, ist es.

Es ist irrational in doppeltem Sinn – wir können es mit dem Verstand, mit unserer Ratio (lateinisch für „Vernunft, Einsicht“ nicht erfassen.

„Ratio“ bedeutet aber auch Verhältnis: die Länge unserer Schnur (der Umfang unseres Kreises) und die Länge des Lineals (der Durchmesser unseres Kreises) stehen in keinem berechenbaren Verhältnis zu einander.

Die Schnur ist 3,1415 etc. mal so lange wie das Lineal – aber so viel wir auch weiter messen oder berechnen – dieses Verhältnis, diese Bruchrechnung: „Umgang des Kreises dividierd durch seinen Durchmesser“ – hört nie auf. Es ist unendlich. Es ist irrational.

Kunst ist genau so irrational.

Sie liegt vor uns, wir können sie sehen, hören, erleben – sie ist ja real da. Wir können sie beschreiben, vermessen – aber je genauer wir sie beschreiben, desto mehr sehen (oder hören) wir, desto feiner werden unsere Beschreibungen, je näher wir hinsehen, desto mehr Nuancen erkennen wir.

Es hört nie auf.

Kunst ist auch irrational im zweiten Sinn: sie ist mit unserer Ratio, unserem Verstand, zwar zu erfassen – aber niemals vollständig. Je rationaler wir sie betrachten, desto offensichtlicher wird das irrationale, das zwischen allen erklärbaren Bedeutungsebenen durchschwingt.

Deshalb ist die Frage: „Ist das Kunst?“ hinfällig, unsinnig.

Dies wäre vergleichbar mit der Frage: ist unsere Schnur 3 Meter und 14 Zentimeter lang? Ja, schon: aber sieh doch genauer hin! Sieh noch genauer hin! Du wirst zu keinem Ende kommen, und daher wirst du die Frage nach dem Inhalt, der Bedeutung eines Kunstwerkes niemals vollständig beantworten können.

Die Künstlerin, der Künstler kann das selbst natürlich auch nicht.

So wenig, wie unsere Schnur „weiß“ wie lange sie ist. Selbst wenn die Schnur denken und sprechen könnte: sie könnte uns nicht sagen, wie lange sie tatsächlich ist. Je genauer sie sich selbst betrachten (und abmessen) würde, desto irrationaler würde uns ihre Antwort erscheinen.

Denn Kunst ist irrational.

Bild: Grafiti in Málaga, Spanien (unbekannte Künstler°in),
Foto: Peter Hauptmann, 2017

Peter Hauptmann | www.art-up.coach