„Alle wollen die Welt verändern, aber keiner sich selbst“
Das soll Leo Tolstoi gesagt haben. Ist aber schon eine Weile her. Vielleicht hätte er ja seine Freude, wenn er heute nochmals leben würde, denn mir kommt vor, „Sich selbst verändern“ ist gerade ein ganz großes Ding.
Jedenfalls ist mein Facebook-Feed voll mit Angeboten, die mich dabei unterstützen wollen, auf Youtube gibt es abertausende Videos dazu und ich könnte endlos viele Verbessere-dich-selbst-Newsletter abonnieren, wenn ich wollte.
Nicht zuletzt bin ich ja selbst Coach, weil ich glaube, dass es möglich ist, sich selbst zu verändern (denn sonst würde dieser Beruf keinerlei Sinn ergeben) und dass es Menschen gibt, die das tatsächlich tun möchten (denn sonst hätte ich ja keine Kunden).
Wenn ich oben schreibe, dass „Sich selbst verändern“ gerade ein ganz großes Ding ist, meine ich das aber keinesfalls kritisch oder ironisch oder zynisch: nein, ich finde tatsächlich, dass es ein „großes Ding“ ist – eines der wichtigsten Dinge, die uns in den letzten Jahrzehnten beschert wurden, eine Geisteshaltung, die im Grunde absolut neu und tatsächlich revolutionär ist.
Denn das Besondere an Tolstois Ausspruch ist ja, dass er überhaupt erkannt und es formuliert hat, dass „die Welt verändern“ und „sich selbst verändern“ in einem Zusammenhang stehen – und dass es tatsächlich möglich ist, sich als erwachsener Mensch (an die er sich ja richtet) überhaupt „zu verändern“.
„Verändern“ ist hier ja nicht physisch gemeint (da ändern wir uns sehr wohl, sichtbar und meist nicht zu unserem Vorteil, über unsere Lebenspanne hinweg) sondern natürlich psychisch, seelisch, in dem, was wir tun, was wir denken und vor allem, wie wir handeln (denn nur letzteres kann ja auch eine Veränderung der „Welt“ bewirken).
Über Jahrtausende hinweg, von wenigen antiken Philosophen abgesehen, war die gängige Meinung nämlich diejenige, dass wir uns in den ersten Lebensjahren entwickeln – zuerst, in dem man Fähigkeiten und Wissen in uns hineinstopft, und – abschließend, als Jugendliche und junge Erwachsene, in dem wir „erkennen“ was unser Weg ist – sodass wir diesen dann, stetig und statisch, ohne weitere größere Änderung (es sei denn, wenn uns das Schicksal „gebrochen“ hat) dann bis zum Ende gehen.
Die wirkliche Revolution der Geisteswissenschaften der letzten 100 Jahre ist aber diese: es ist möglich, nicht nur „lebenslang zu lernen“ (das war ein Slogan in meiner Kindheit und Jugend) – sondern, und das ist das Wesentliche: sich auch als erwachsener Mensch, egal in welcher Lebensphase man sich befindet – verändern zu können: also das Gelernte tatsächlich auf das eigene Sein anzuwenden und sich als Mensch weiter zu entwickeln.
In Ursprüngen war die Idee natürlich schon bei vielen Philosophen seit dem Alterum vorhanden und in der Arbeit Siegmund Freuds hat sie dann erstmals auch eine praktische Antwendung gefunden, indem er und zeitgleich auch seine Kollegen wie Jung, Adler und andere erkannten, dass man seelische Leiden nicht nur „beseitigen“ kann (wie andere Krankheiten auch) – sondern dass dies durch eine Veränderung des Denkens, der Selbstwahrnehmung, des Erlebens – beim erwachsenen Menschen – bewerkstelligt werden kann.
(Übrgens ähnlich, wie – später – auch erkannt wurde, dass andere Krankheiten durch Änderung des „Lebensstils“ geheilt oder vermieden werden können).
So wirklich durchgesetzt hat sich der Gedanke aber erst in den letzten paar Jahrzehnten: nicht nur seelisch Kranke, nicht nur Philosophen, nicht nur Künstler (denen dies, früher als anderen zugestanden wurde) können in ihrem Erwachsenenleben eine Veränderung durchmachen – nein, jede°r kann es – und vor allem: jede°r sollte es.
Das ist das eigentlich revolutionäre an Tolstois Gedanken: dass nämlich die WELT verändert werden könnte, wenn WIR uns ändern – und mit WIR meint er ausdrücklich jeden einzelnen, nicht „WIR“ als Menschheit oder ähnlich Abstraktes, sondern ganz konkret: ich kann die Welt verändern, in dem ich mich selbst verändere.
Gleichzeitig ist dies das eigentlich revolutionäre an unserer Zeit, am Web 2.0 oder 3.0 oder 4.0 oder wo wir damit schon sind: wir haben mehr und bessere Tools zur Hand, als dies jemals der Fall war: jede°r kann auf unzählige Hilfsmittel und Ressourcen zurückgreifen – egal ob Online oder in Form von Büchern, Kursen, Seminaren – vor allem aber: es ist möglich und denkbar, und „erlaubt“ sich zu verändern: ich kann es, wenn ich will und viele wollen es, weil es eben „ein Ding“ geworden ist.
Manchmal mag es einem zu viel erscheinen, mag uns die Vielzahl an „Selbsthilfe“ und „entwickle – dich“ Angeboten abschrecken – aber da ergeht es uns nicht anders, als mit anderen Werten, die wir als Menschen mühsam erworben haben bzw. in vielen Bereichen noch dabei sind, zu erwerben: Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung, etc.: es mag manchmal mühsam wirken, aber: was für ein Geschenk!!!
Danke, danke, danke: dass wir in dieser Zeit leben, dass wir nicht unser ganzes Leben sein müssen, wer wir oder irgendeiner unserer Erzieher einmal geglaubt hat, dass wir sein müssen oder sollten, dass wir uns entwickeln und dass wir wachsen können: Danke, dass das dies „ein Ding“ ist, in unserer Zeit!
Bild: Graffiti in Hard in Vorarlberg, 30.3.2014, Foto von Karin Schäfer