In ihrem beeindruckenden Roman „Shanghai Hotel“ beschreibt Vicky Baum einen jungen Mann, der sich Anfang des vorigen Jahrhunderts der chinesischen Revolution anschließt und dabei – als Sohn eines reichen Shanghaier Bankiers – zu seiner eigenen Überraschung bemerkt, dass die Millionen armer Menschen im Land, auf den Straßen, in den Dörfern, in seinem eigenen Haus… Menschen sind. Und nicht Tiere.
Er hat nie darüber nachgedacht, aber bemerkt nun, dass er all die „niedrigen“ und armen Menschen rund um ihn, die „Kulis“ bisher praktisch als „Tiere“ gesehen hat. Sie waren vorhanden, sie verrichteten alle Arbeiten aber es war nicht notwendig, sich über sie Gedanken zu machen oder zu denken, dass auch sie Menschen wären, dass ihr Leben oder ihre Gefühle irgendeine Bedeutung hätten.
Ähnlich dürfte es die Oberschicht im alten Griechenland und in Rom gesehen haben: sie lebten mit Menschen im selben Haus, die keine Menschen waren, die nur so aussahen. Sie konnten gekauft und verkauft werden, sie verrichteten alle Arbeiten, ja sie unterrichteten sogar ihre Kinder (denn es gab auch sehr gebildete Sklaven), aber „Menschen“ waren sie nicht.
Diese Menschen, die man als Zugehöriger zu einer bestimmten Schicht gar nicht als Menschen betrachten muss, rückten in den folgenden Jahrhunderten immer weiter weg von denen, für die sie Arbeit verrichten.
Während sie im Altertum noch im selben Haus lebten, wurden sie im Mittelalter in ärmlichen Hütten rund um die Burg ihres Herren angesiedelt, immer noch in Gehdistanz. Zu Beginn der Neuzeit lebten und schufteten sie auf Plantagen, in sicherer, aber mit dem Pferdewage erreichbarer Entfernung vom Herrenhaus. Nach der Industrialisierung wurden sie in Fabriken gesteckt, die man bequem mit dem Automobil besichtigen konnte. Diese Fabriken wanderten schließlich immer weiter weg von ihren Besitzern – und denen, für die geschuftet wurde – bis sie sich plötzlich am anderen Ende der Welt befanden.
Gleichzeitig wurde und wird die Oberschicht, die sich da bedienen lässt, immer größer. Und, ja, es ist verrückt: auch jene, die hier in Europa und in Amerika selbst für einen Hungerlohn ausgebeutet werden, gehören zu dieser „Oberschicht“, die sich ihre eigene Kleidung und andere Dinge ihrer täglichen Verwendung gar nicht leisten könnten, würden diese nicht von noch viel Ärmeren hergestellt, die zu einem noch viel kärglicheren Hungerlohn am anderen Ende der Welt für sie schuften.
„Globalisierung“ bedeutet, dass es möglich ist, die Sklaven aus dem eigenen Haus, dem eigenen Dorf, dem eigenen Land, dem eigenen Kontinent zu verbannen – ans andere Ende der Welt.
Das geht, weil die Transportmittel besser und besser werden und daher die von den Sklaven hergestellten Waren (und sogar Dienstleistungen) nicht mehr im Haus, im Dorf, in der Stadt, im Land gemacht werden müssen, sondern in ausreichender Geschwindigkeit rund um den Globus geschickt werden können.
Allerdings werden auch die Kommunikationsmittel immer besser und besser, und so kommt es, dass wir, obwohl sie so weit und so erfolgreich von uns und unserem Leben und unser täglichen Wahrnehmung weggeschoben wurden, immer noch von diesen Menschen hören (ja, mittlerweile hat es sich herumgesprochen, dass es doch Menschen sind, und sogar die „Menschenrechte“ – theoretisch – für sie gelten würden).
Denn das „Wegschieben“ ist Folge der Demokratisierung, der Aufklärung, der Menschenrechte: gerade weil in den „zivilisierten“ Ländern die Menschen bemerkt (und sich in blutigen Revolutionen erkämpft) haben, dass sie doch alle Menschen sind, wollen sie keinesfalls haben, dass andere sichtbar sind, denen dieses Menschsein nicht gewährt wird.
Weiter weg geht aber nicht mehr. Die Erde ist rund, der Planet begrenzt, wir müssen uns dieser Tatsache stellen: wir können nur auf dem Niveau leben auf dem wir leben (und selbst wenn es uns mieserabel vorkommt, wie wir selber leben!), weil andere Menschen für uns Dinge herstellen, die wir uns nur deshalb leisten können, weil sie selbst (noch viel) weniger verdienen als wir.
Nur auf diesem ewigen Gefälle ist unsere derzeitige Lebensweise vorstellbar. Jedes Ding, das ich besitze, wäre um ein Vielfaches teurer, wenn diejenigen, die es hergestellt haben (und zur Herstellung beigetragen, zum Beispiel bei der Gewinnung der Rohstoffe, Bodenschätze, etc.) auf dem selben Niveau verdienen würden, wie ich.
Jeder einzelne würde weniger besitzen, würde sich viel, viel weniger leisten können, alles wäre wesentlich teurer. Es würden wieder nur einige wenige, ganz Reiche überbleiben, und denen wäre es womöglich egal, ob ihre Sklaven wieder im selben Haus leben, oder nicht.